Vityas Bikepost

Ich stehe mitten im kleinen Ort Jekaterinoslavka und kämpfe mit dem Navi und der Handy-App. Andrej hatte mir von einem Bikepost erzählt, dessen Betreiber sich mit Spitznamen Claus und mit richtigem Namen Vitya nennt. Per whats app hatte ich mich angemeldet, doch nun muss ich die Adresse erst mal finden. Da hält eine ältere BMW RT neben mir und der Fahrer fragt: „You Biker look for Claus? Follow me“. Sein Name ist Eddi und er gehört ebenfalls zur kleinen Bikerszene von Jekaterinoslavka. Ich folge ihm zu einem größeren Lattenzaun mit Tor, Eddi übergibt mich einem älteren Herren und verabschiedet sich, gibt mir aber zu verstehen, dass wir uns noch sehen werden. Der ältere Herr ist Vityas (Claus‘ richtiger Name) Vater und kurz darauf kommt auch dieser mit einem charismatischen Lachen um die Ecke. „Willkomen bei uns“ ruft er auf Russisch, während er mich mit einem kräftigen Händedruck begrüßt. Als erstes zeigt er mir seine „Liegenschaft“, anders kann man es nicht nennen, denn Vitya hat hier ein kleines Paradies geschaffen. Hier gibt es Elternhaus, Familien-Wohnhaus, Grillplatz, Natur-Swimming-Pool und Werkstatt mit Bikepost und Schrottplatz in einem. Vitya lebt hier zusammen mit seiner Frau Olga, der gemeinsamen Tochter Lena und dem Vater, der einmal Kunstlehrer war. Dem Bikpost hat Vitya sogar eine warme Freiluft-Dusche und eine eigene Toilette spendiert. Ich erwähne, dass ich meine Reifen wechseln wollte. Ehe ich mich versehe, hängt die GS am Flaschenzug der Garage, so dass ich beide Räder demontieren kann. Anschließend fährt mich Vitya zum Reifenhändler, den er extra noch in sein schon geschlossenes Geschäft zitiert hat und wir kaufen Essen für den Abend ein. Vitya ist überall bekannt, allerdings hat Jekaterinoslavka auch nur 12000 Einwohner. Der Ort lebt hauptsächlich vom Mais- und Soja-Anbau. Am Abend kommen diverse Familienmitglieder und Nachbarn vorbei. Auch Eddi ist dabei. Wir snacken Fisch, Kartoffeln, Wurst und andere Leckereien und trinken dazu Bier und Vityas selbstgemachten Portwein, von dem er mehrere Ballonflaschen auftischt. Vitya zeigt mir stolz sein Gästebuch und erzählt mir von einem „verrückten“ Deutschen aus München namens Markus. Der sei hier vor wenigen Tagen auf seiner Vespa mit dem Motto: In 80 Tagen um die Welt! vorbei gekommen. Ich zücke immer wieder mein Telefon um den Übersetzer zu benutzen, doch Vitya betont stets: „Lass doch, Dein Russisch ist doch ok, wir verstehen uns schon!“. Und so wird auch an diesem Abend mein Russich mit jedem Glas Wein immer besser. Als wir über die großen Distanzen in Sibirien sprechen, weist mich Vitya an:“ Schau mal, wir besuchen hier die Biker im 600km entfernten Mogocha bloß auf ein Bier. Da kannst Du doch sicher mal die 200km nach München einbauen und Vespafahrer Markus treffen.“
Ein Schwager von Vitya erzählt mir im Laufe des Abends, er habe gehört, wir hätten in Deutschland so viele Probleme mit Flüchtlingen. Ich versuche ihm zu erklären, dass es meiner Ansicht nicht mehr Probleme als anderswo gebe und wir ohnehin auf die Arbeitskraft der Zuwanderer angewiesen seien. Außerdem werde zwar öfters über die Flüchtlingsproblematik berichtet, im Alltag sei Sie aber zumindest in meinem Umfeld kaum zu spüren. Olga, Vityas Frau, schaltet sich ein. Das sei halt wie immer, meint sie, die Realität und das, was berichtet wird, unterscheiden sich. Und bei Ihnen sei es ebenfalls so, dass die Tadjiken, Usbeken und anderen Zuwanderer die ganzen Arbeitskräfte stellten. In der Tat ist mir aufgefallen, dass an den Straßenbaustellen nur wenige gebürtige Russen arbeiten. Dass zeitgleich zu diesem Gespräch die Proteste gegen Ausländer in Chemnitz laufen, weiß ich in diesem Moment noch nicht.
Vitya arbeitet im normalen Leben als Chauffeur für eine Art Lokalpolitiker. Deshalb hält er sich auch zu meinem Erstaunen mit dem Alkohol ziemlich zurück. Vodka wird in Russland heutzutage generell nicht mehr so viel getrunken. Bevor wir uns am Abend verabschieden, lässt es sich Vitya nicht nehmen, mir noch eine Übernachtungsmöglichkeit in Chabarovsk zu organisieren. Der eigentliche Betreiber des Bikeposts dort antwortet nicht, später erfahre ich, dass er im Krankenhaus liegt. Deshalb wird mir Mischa, ein anderer Biker aus Chabarovsk, ein Dach über dem Kopf gewähren. Vitya lacht wieder:“Du wirst hier schon nicht verloren gehen, Martin! Wir Russen kümmern uns um Dich!“
Am nächsten Morgen schlafe ich mich aus und genieße noch etwas die Ruhe in Vityas Garten. Seine Tochter Lena (16) setzt sich beim Frühtück zu mir und zeichnet. Das sei ihr größtes Hobby erzählt sie mir und zeigt mir stolz ihre gesammelten Werke. Mit Vorliebe zeichnet sie Fotos von den Motorradfahrern nach, die im Bikepost absteigen. Die Zeichnungen sind wirklich gut, und ich bedeute ihr, sie solle doch wenigstens einen Insta-Account damit starten. Sie winkt lächelnd ab und meint, eine Webseite für den Bikepost ihres Vaters sei wichtiger. Ich versuche, mir vorzustellen, wie die Welt für Lena und unsere Kinder in Deutschland in zwanzig Jahren wohl aussehen wird. Wenn ich überlege, wie viele Russen Selbstversorger sind und Jagen, Fischen und Pilze sammeln können. Durch die harten Jahrzente der Postsovjet-Ära mussten die Menschen Strategien zum Überleben entwickeln. Gleichzeitig dieser unendliche Reichtum an Natur und Wald. Dagegen Deutschland als Industrienation voller Hightech. Ich würde schon daran scheitern, einen Fisch ordentlich auszunehmen.
Guten Abend Martin,
schön von Dir zu hören. Herzlichen Dank für Deinen tollen Reisebericht.
Ich wünsche Dir eine schöne Zeit und gute Fahrt.
Lieber Gruß Wilhelm
Klaus ist ein ganz toller Kerl und die ganze Clique dort inkusive seiner Familie. hatte das Vergnügen dort eine Nacht zu bleiben. Liebe Grüße von La Vida Vespa – in 80 Tagen um die Welt ! 😉
Markus