Tschetschenien und Dagestan

„Dokumenty“ verlangt der Polizeibeamte, nachdem er mein Motorrad umrundet hat. Und dann fügt er noch hinzu:“Moto-Passport“ – und einige russische Wörter, die ich nicht verstehe. Es ist Dienstag, zehn Uhr morgens und ich bin nicht einmal zwei Kilometer aus Vladikavkas hinaus gefahren, da werde ich von der Straße gewunken. Ich solle einen Alkoholtest machen, bedeutet er mir. Da ich in den letzten drei Tagen exakt zwei Bier getrunken habe, sehe ich kein Problem. Doch an seinem vergammelten Plastikkästchen leuchtet die Lampe jetzt rot. „Problem“ sagt er, als er mir mit hoch gezogenen Augenbrauen einen ernsten Ton vorspielt. Ich kann mir denken, wohin die Situation führen wird, doch noch gebe ich mich selbstbewusst und entgegne, dass ich mir sicher bin, nichts getrunken zu haben. Er nimmt mich mit in einen Rohbau und gibt mir ein anderes Gerät zum Pusten. Vorher zeigt er mir noch irgendein Papier, das wohl die Eichung bestätigen soll. Wieder positiv. Rund sechs Beamte befinden sich in der Station, davon zwei in Tarnklamotten und mit Kalschnikows ausgerüstet – alle scheinen unendlich viel Zeit zu haben. Als mein Beamter mir das Gerät gerade zum zweiten Mal hinstrecken will, kommt wie gerufen ein stämmiger Offizier mit Gefolge, um den Checkpoint zu inspizieren. Ich nutze die Gunst der Stunde und bedeute einem der bewaffneten Jungs, dass ich jetzt wirklich gerne weiter fahren würde, fest entschlossen, mich sonst an den Offizier zu wenden. Zwei Minuten später tuckere ich nun endlich aus der Stadt hinaus, vorerst ohne „Schmiergeld“ los geworden zu sein. Dies sollte nur die erste von unzähligen Polizeikontrollen sein.
Nachdem mir Joachim erzählt hatte, dass er eine Nacht in Grosny verbracht hat, und sich völlig sicher fühlte, habe auch ich mich entschlossen, die Route durch Tschetschenien und Dagestan zu nehmen. In Richtung Grosny herrscht fast so viel Verkehr wie am Pragsattel in Stuttgart. Auch wenn ich mir Grosny gerne ansehen würde, beschließe ich auf der Schnellstraße vorbei zu fahren. Ich möchte Kilometer gut machen. In einem kleinen Ort namens Koshkeldy, kurz vor der Grenze nach Dagestan, traue ich meinen Augen nicht. Vor mir fährt ein weißer Audi mit Essener Kennzeichen. Ich überhole und grüße, an der nächsten Ampel unterhalten wir uns. Drinnen sitzen Said (28) und seine Frau Zarema (23), die auf Heimat-Urlaub sind. „Hast Du Hunger?“ fragt mich Said mit rheinländischem Akzent, „meine Tante hat hier ganz in der Nähe ein kleines Restaurant“. Ich nehme dankend an. Said ist 2001 nach Deutschland gekommen. Nachdem er mit der Familie drei Jahre lang im Asylbewerberheim in Warburg gewohnt hat, ist er nach Essen gezogen. Dort arbeitet er für ein Sicherheitsunternehmen, seine Frau macht eine Ausbildung zur Krankenschwester. Ob er plane wieder zurück nach Tschetschenien zu ziehen, frage ich? „Natürlich würde ich gerne wieder zurück kommen“, antwortet er, „die Situation in Deutschland macht mir Sorgen. Sobald man ausländisch aussieht, wird man momentan mit allen Asylbewerbern über einen Kamm geschert.“ Auch das Erstarken von AFD und Pegida machen ihm Angst. Jedoch ist eine Rückkehr, nachdem man sein halbes Leben in Deutschland verbracht hat, auch keine leichte Entscheidung. Said besteht darauf, mich einzuladen. Wir verabschieden uns – die beiden müssen weiter zum Einkaufen, ich selbst überlege, ob ich Astrachan heute noch erreichen kann.
Nachdem ich die Kleinstadt Kisljar passiert habe, beginnt das Nichts. Die Straße ist schnurgerade, rechts und links erstreckt sich die Steppe bis zum Horizont. Ich beginne meine Gasgriffklemme zu lieben, turne vor Langeweile auf dem Motorrad herum. Hin- und wieder einen Lastwagen zu überholen, ist die einzige Abwechslung. Ich ahne, wie es in Kasachstan werden wird. Eigentlich wollte ich mit der Dämmerung anfangen, nach einem Hotel Ausschau zu halten. Doch momentan sehe ich nicht einmal Häuser. An einer Kreuzung steht auf einem Schild nach rechts Астрахань. Dass das Astrachan heißt, habe ich mir inzwischen gemerkt. Wenige Kilometer später stehe ich im Nichts, die Straße ist zu Ende, Ausbauende. Die Sonne geht blutrot am Horizont unter, es hat laue 30 Grad und ich beginne zu überlegen, ob ich hier zelten würde. An der letzten Kreuzung frage ich einen Trucker nach dem Weg. Soviel ich verstehe, muss man einen Umweg über Komsmolskiy fahren. Während die letzten Zentimeter Sonne verschwinden, fahre ich auf eine wabernde Wolke über dem Asphalt zu. Als ich näher komme, erkenne ich, dass es ein riesiger Heuschreckenschwarm sein muss. Ich reduziere auf 60 und ducke mich hinter das Windschild. Trotzdem tut es unheimliche Schläge, als die Tiere gegen mich und dass Motorrad klatschen. Ich muss an Hitchcocks Vögel denken. Inzwischen ist es Nacht geworden: Außer dem gleichmäßigen Blubbern des Motors und ein paar Metern Scheinwerferlicht gibt es um mich herum nur Schwarz. Manchmal gelingt es mir nicht mehr, den Schlaglöchern auszuweichen, doch das GS-Fahrwerk steckt alles willig ein. Ich überlege, ob ich ein dankbares Ziel für Verbrecher abgebe, doch so wenig, wie ich erkenne, was sich hinter entgegen kommenden Scheinwerfern verbirgt, erkennen andere von mir.
In Mikhaylovskiy lande ich wieder eine Polizeikontrolle. Der Polizist macht sich nicht einmal die Mühe, mir ein Vergehen zu unterstellen, sondern sagt nur grinsend: „Money, Money!“. Ich grinse ebenfalls und antworte: „No Money!“ Daraufhin entlässt er mich mit einem „Davai!“ in die Dunkelheit. Es scheint ihm zu spät zu sein. Ein paar Meter weiter ist wieder Schluss. Sackgasse. Als ich anhalte, um mich mit Navi und Handy zu orientieren, halten ein Kleinlaster und ein Auto neben mir. Im Laster sitzen Shamil und Hassan aus Grosny, sie fragen mich ironischerweise nach dem Weg nach Astrachan. Der Autofahrer weiß auch nicht weiter. Ein weiterer Kleinlaster hält an, scheinbar kennt dieser Fahrer den Weg. Wir bilden eine Kolonne. Da die Straße ungeteert ist, fahre ich voraus, um nicht zu viel Staub schlucken zu müssen. Die Strecke hat es in sich. Es gibt riesige Löcher, zum Teil sind lange Sandpassagen dabei. Ich bin heilfroh, dass ich zuvor Offroad-Erfahrung gesammelt habe, und genieße die Absurdität der Situation. Als wir eine Stunde später wieder auf der Hauptroute zu sein scheinen, verständige ich mich mit Shamil und Hassan darauf, gemeinsam bis nach Astrachan zu fahren. In der Vorstadt angekommen, schlägt mir Shamil vor, zu McDonalds zu fahren. So sitze ich um ein Uhr nachts vor dem Burgerladen in Astrachan, in dem sich auch die Bikerszene trifft, und unterhalte mich per Google-Translate. Shamil und Hassan sind Gemüsehändler, sie wollen Ware einkaufen. Natürlich werde ich wieder eingeladen – sowohl zum Essen als auch zu einem Besuch bei ihnen in Grosny. Am Ende fahren sie erst weiter, als sie sicher gestellt haben, dass Biker Evgeny und seine Freundin Arina mich zu meinem Hotel geleiten. Ich bin beeindruckt und gerührt von der Hilfsbereitschaft der Menschen, die ich an dem Tag getroffen habe, als ich gegen drei Uhr ins Bett sinke.