Astrachan und Kasachstan

Nach der anstrengenden Nachtfahrt, beschließe ich in Astrachan einen Tag zu pausieren und mich etwas auszuruhen. Ich genieße die Vorzüge des Hotels einer westlichen Kette und versuche, mich an die tägliche Zeitumstellung zu gewöhnen. Mit fast jedem Tag, den ich weiter in den Osten vordringe, verliere ich eine Stunde. Als ich mich an der Rezeption auf Englisch nach den Straßenverhältnissen in Kasachstan erkundigen möchte, stellt sich heraus, dass die junge Frau fließend Deutsch spricht. Irina (26) wurde ursprünglich in Kaliningrad geboren, lebt aber schon fast ihr ganzes Leben mit der Familie in Astrachan. In der Schule gab es eine engagierte Lehrerin, die sich für den Deutschunterricht eingesetzte, und so zieht sich das Thema Deutschland durch Ihr Leben wie ein roter Faden. Inzwischen hat sie die Fremdsprachen Deutsch und Englisch, außerdem Betriebswirtschaftslehre studiert. In Deutschland war sie schon oft, zum ersten Mal mit 15 beim dreimonatigen Schüleraustausch in Schwerin, zuletzt zweimal mit dem pädagogischen Austauschdienst in Göppingen. Dort unterrichtete sie jeweils ein knappes Jahr Russisch am Hohenstaufen-Gymnasium. Sie hat sogar einen schwäbischen Zungenschlag. Während wir zum 2007 erbauten Musiktheater schlendern, erzählt sie, dass sie neben der Arbeit im Hotel noch mit Führungen für Flusskreuzfahrt-Touristen Geld verdient. Astrachan liegt am Wolga-Delta. „Die Opas und Omas vom Schiff machen schon Spaß“, sagt sie. Aber europäischen Militärattaches die Stadt zu zeigen und für sie zu übersetzen, fände sie reizvoller. Dann schickt sie mich in Richtung Kremlin – die wunderschöne Innenstadt Astrachans sehe ich mir in der Abenddämmerung an.
Dass es heiß werden würde, war mir klar. Ebenso dass die Straßen schlecht sein würden, hatte ich gehört. Doch die Straße zwischen Astrachan und Atyrau gleicht einer einzigen Mondlandschaft. Es gibt Schlaglöcher, so groß dass man drin baden könnte. Das Thermometer pendelt sich zwischen 37 und 39 Grad ein, dabei muss ich hochkonzentriert bleiben. Als ich am Abend in Atyrau ankomme, habe ich den ganzen Tag für gerade einmal 300 Kilometer gebraucht. Die Zeit reicht noch, um einen kurzen Spaziergang entlang der Promenade zu machen. Atyrau lebt von der Ölindustrie. Auf dem Weg habe ich dutzende Förderanlagen gesehen. Deshalb hat die Stadt für kasachische Verhältnisse fast ein internationales Flair. Es gibt sogar Leute, die Englisch sprechen. Nachdem mir fast alle bestätigt haben, dass die Straße zwischen Makat und Aqtöbe unpassierbar ist, gebe ich mich geschlagen: Ich nehme den 500 Kilometer langen Umweg über Oralsk.
Am nächsten Morgen klemme ich den Gasgriff bei 90 Stundenkilometer fest, mehr ist in Kasachstan sowieso nicht erlaubt, und verbringe den ganzen Tag auf dem Motorrad. Ich esse, trinke, höre Musik, Hauptsache die Fuhre rollt. Entgegen aller Warnungen, die ich vorher bekommen hatte, werde ich nicht ein einziges Mal von der Polizei kontrolliert. An einer Tankstelle unterhalte ich mich mit einem jüngeren Pärchen auf Englisch. Sie wollen nach Georgien zum Scorpions-Konzert. 3000 Kilometer nehmen sie dafür auf sich. Gegen 22 Uhr und 1000 Kilomerter später rolle ich ins Zentrum von Aqtöbe und versuche im Dunkeln die kyrillischen Buchstaben für Gostiniza, sprich Hotel, zu entziffern.