Im Deutschen Nationalrajon Halbstadt

Ich fahre den ganzen Tage, habe wieder eine ausgezeichnete Straße unter mir und schaffe es sogar bis über die russiche Grenze bei Kulunda. Als ich in der brütenden Hitze am russichen Posten warte, steht neben mir ein Bus, davor eine Gruppe usbekischer Gastarbeiter. Da löst sicher einer aus der Gruppe, kommt auf mich zu und drückt mir eine Flasche Mineralwasser in die Hand:“Nastarovje, moi drug!“, ich bin gerührt.

Der Lebensstandard hat seit Tadschikistan graduell gen Norden über Kirgistan und Kasachstan zu genommen. Hier in Russland fällt mir das als erstes durch ein unwichtiges Detail auf: Nach der Grenze gibt es Fahrbahnmarkierungen und einen gemähten Grünstreifen. Verrückt! Ich erreiche bei Anbruch der Dunkelheit den „Deutschen Nationalrajon (Nationalkreis) Halbstadt“ und checke in der gleichnamigen Gostiniza Halbstadt ein. Als ich am nächsten Tag versuche, am Automaten Geld abzuheben und umzutauschen, bin ich ernüchtert, denn weder im Hotel noch in der Bank spricht irgendjemand Deutsch. Ich habe das Gefühl, die Damen im Hotel halten mich für einen Russlanddeutschen, der sein Russich verlernt hat, sie sind nicht gerade freundlich. Als ich etwas bedröppelt vor der Bank stehe und überlege, wie ich meine Simkarte am Geldautomaten aufgeladen bekomme, nimmt sich Igor meiner an. Über Google-Translate erklärt er mir, dass er zwei Jahre in Deutschland gelebt, aber alles Deutsch vergessen habe. Damals hätten ihm die Deutschen auch geholfen, er wisse wie es sei im Ausland. Er lädt mir das Handy auf und steigt fröhlich in sein Auto.

„Du bist aber weit weg von daheim unterwegs!“, ertönt es plötzlich hinter mir. Vor mir steht Andrej, er spricht fließend Deutsch mit einem leicht norddeutsch klingenden Akzent. „Ich habe zwanzig Jahre lang in der Nähe von Paderborn gelebt,“ erklärt er. Ich frage ihn, ob er Zeit auf einen Kaffee hat, er lädt mich darauf hin zu sich nach Hause ein. Andrej wohnt mit seiner Familie im Ort Protasowo, 40 Kilometer nördlich von Halbstadt. Hier lag ehemals ein kleiner Ort namens Reinfeld, doch den gibt es schon lang nicht mehr. Mit seinem Bruder Johann hat sich Andrej hier ein beachtliches zweistöckiges Doppelhaus gebaut. 1992 kam die gesamte Familie – Eltern, Andrej und die fünf Geschwister – im Zuge des Russlanddeutschen Exodus nach Deutschland. Man suchte sich Arbeit und Wohnungen und begann ein neues Leben in der neuen alten Heimat. Doch in Johann arbeitete das Heimweh nach der sibirischen Weite. Als ihm der Arbeitgeber aufgrund von schlechter Konjunktur das Gehalt kürzt, reicht es ihm. Er packt seine Koffer und fährt halsüberkopf nach Halbstadt zurück. Hier steht inzwischen alles still, die Dörfer sind zu Durchgangsstationen für Russlanddeutsche auf dem Weg von Kasachstan nach Deutschland mutiert, alles ist herunter gekommen. Er fasst den Plan zur dauerhaften Rückkehr, Andrej schließt sich ihm an. Acht Jahre lang bauen die beiden am Haus, arbeiten parallel in Deutschland, um das Geld dafür zu verdienen. 2007 zieht erst Johann, anschließend 2012 auch Andrej mit seiner Frau und den drei Kindern zurück. Ob sie es je bereut hätten, frage ich. „Nicht eine Minute!“ antworten beide. Andrej blickt über das angrenzende Feld:“Diese Weite, dieser Raum, das hat mir gefehlt!“, fügt er hinzu. In einer Wohnung eingepfercht im dicht besiedelten Deutschland, das habe ihn eingeengt. Auch wenn ihn in Deutschland alle Verwandten für bekloppt halten. Marina, seine Frau, hat inzwischen Borsch und Kaffee für uns gekocht. Als ich nach Milch frage, läuft der zwölfjährige Sohn, Adrian, kurz rüber und holt frische Milch von Johanns Kuh. Nach dem Essen verabschiedet sich Andrej, er arbeitet bei einer Bäckerei mit 20 Angestellten im Ort als Betriebsleiter. Sein Sohn führt mich durchs Dorf. Zirka 50 Rückkehrer-Familien gibt es inzwischen im Kreis. In Protasowo gibt es zudem noch strenggläubige deutsche Baptisten-Familien, die schon immer hier geblieben sind. „So langsam tut sich wieder etwas im Dorf“ erklärt mir Johann. „Wir waren die ersten mit Doppelglasfenstern, inzwischen haben fast alle welche. Der Lebenstandard steigt wieder.“ Marina ist im örtlichen Deutschen Kulturverein aktiv, dort werden Ferienlager für die deutschen Kinder organisiert und vor allem viel Deutsch gesprochen und gesungen, damit die Sprache nicht verlernt wird. Vor allem sorgen sie sich ums Plattdeutsche, das die Älteren noch sprechen. 200 Jahre lang hat der Dialekt in dem Dorf überlebt und wurde die letzten zwanzig Jahre wie weggewischt.

Als ich mit Adrian vom Spaziergang zurück komme, liegt Johann unter seinem Ural-Motorrad-Gespann, das er wieder herrichten will. „Komm doch im August wieder vorbei,“ zwinkert er mir zu, „ich bin zu 100 Prozent hier, wie auch den Rest meines Lebens!“ Ich bedanke mich für die spontane und herzliche Gastfreundschaft. Einziger Wehmutstropfen: „Du darfst alles fotografieren und schreiben,“ lacht Johann, „nur von uns möchte keiner auf Fotos.“ Ich fahre noch im Nachbarort Podsosnowo vorbei. Hier sind wohl 70 Prozent der Deutschen vor Ort geblieben und es wurde mehr der bayrische Dialekt gesprochen, wie mir Andrej erklärte. Vor Ort zeugen Deutsch-Russische Embleme und Inschriften von der gemischten Bevölkerung. Danach schlage ich den Weg gen Norden ein.

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