
Am nächsten Morgen wollen wir die „Abkürzung“ in Richtung Chjargas-Nuur-See nehmen. Es ist herrliches Wetter, Mischa und ich düsen wieder voran über die Steppe. Die Mischung aus Konzentration, Geschwindigkeit, Landschaft und das Rallye-Gefühl wenn die Maschine über die Unebenheiten wobbelt, ergeben ein wahres Hochgefühl. Als wir auf einer Anhöhe auf die Anderen warten, sagt Mischa:“I think this is what I have been looking for all my life! This is almost better than sex!“. Nichtsahnend, dass dieses Gefühl leider bald jäh unterbrochen werden würde.
Wir kommen deutlich schneller voran als am Vortag, Mittags sind wir am See. Als wir anschließend auf ein Zwischenstück von 150 Kilometern Teerstraße treffen, küsst Vali vor Freude die Straße. Wir pumpen die Reifen wieder auf, albern herum und machen Fotos. Als es dämmert, erreichen wir den kleinen Ort Songino. Es gibt immerhin eine Unterkunft, in der es Betten gibt. Auf die Dusche müssen wir wohl wieder verzichten. Vor uns liegen noch 200 Kilometer Offroad, dann sollen laut der Einheimischen, die restlichen 800 Kilometer bis Ulanbaator geteert sein. Nachdem wir uns zum Frühstück mit einem Stapel Mante gestärkt haben, der landesüblichen „Maultasche“, wird noch Sprit gefasst, dann gehts wieder raus auf die Ebene. Mischa sucht sich links von mir eine Spur, ich versuche rechts mein Glück, als ich nur noch eine Staubwolke sehe. Zwischendurch ein paar Beine von Mischa in der Luft, als ich mein Motorrad hinschmeiße, auf die Unfallstelle zu renne und der Staub sich legt, liegt er reglos am Boden. Er ist in eine verhärtete LKW-Fahrspur geraten und hat die Kontrolle verloren. Zum Glück bewegt er sich schon wieder, als uns wenige Sekunden später die anderen Beiden erreichen. Die erste Angst legt sich glücklicherweise schnell wieder. Zehen und Arme sind beweglich. „How is bike?“ stammelt er, und dann noch: „I not remember your name.“ Er hat eine üble Schwellung am Steiß und einen kleinen Gedächtnisverlust. Wir richten ihm ein Lager auf einer Isomatte, ich fahre den Kilometer zurück nach Songino um einen Arzt zu suchen. Immerhin gelingt es mir der Ärztin und der Schwester vor Ort klar zu machen, dass sie mir im Jeep mit Fahrer zur Unfallstelle folgen und eine Trage mit nehmen sollen. Zurück an der Unfallstelle ist die Ärztin etwas hilflos, sie schlägt vor, Mischa mit in die Krankenstation zu nehmen. Bogdan und Vali wollen sich um das Motorrad kümmern, ich begleite Mischa. Doch uns ist inzwischen klar, dass er so schnell nirgendwo hin fahren wird. Die Federgabel des Motorrads ist verdreht, das Vorderrad krumm, ein paar Speichen sind gebrochen, der Lenker ist verbogen. Da es nun um etwas komplexere Dinge in der Verständigung geht, beginne ich mich mit der Krankenschwester über Zeichnungen zu verständigen. So erfahre ich, dass das nächste Röntgengerät im 200 Kilometer entfernten Tosontsengel steht, am Ende der Offroadstrecke. Ich rufe eine befreundete Ärztin in Deutschland an, die mir bestätigt, dass wir eine Wirbelsäulenverletzung wohl ausschließen können. Es entsteht der Plan, einen LKW anzuhalten, der Mischa samt Motorrad bis nach Ulanbaator mit nimmt. Bogdan fährt das geschrottete Motorrad zurück in den Ort. Nach ein paar Stunden wackelt Mischa schon wieder auf eigenen Füßen zurück zur Hauptstraße von Songino, in der wir in einem kleinen Lokal unsere „Basis“ eingerichtet haben. Wir telefonieren und beratschlagen uns, fragen uns durch, doch Englisch versteht niemand. Als ich erneut ein paar Reisende anspreche, antwortet einer von ihnen im breitesten Cockney Englisch. Er ist Professor an der Universität von Ulanbaator und schreibt uns die notwendigen Sätze, um Trucker nach einer „Mitfahrgelegenheit“ für Mischa zu fragen, auf ein Stück Papier. Ich hadere mit mir. Meine Reise verzögert sich mehr und mehr, doch die Gruppe in dieser Situation allein zu lassen, ist unvorstellbar. Gegen 16:00 Uhr, wir stellen uns auf eine weitere Nacht in Songino ein, rumpelt wieder ein Truck durchs Dorf. Der Zettel des Professors funktioniert. Der Fahrer hat einen alten Geländewagen, Steine und ein paar Kisten auf der Ladefläche und willigt ein, das Motorrad aufzuladen. Mischa könne er nicht mit nehmen, das Führerhaus sei voll. „There is space in the Jeep!“ wirft Bogdan ein. Nach ein bißchen Überzeugungsarbeit, hieven wir Mischa auf den Sitz des Geländewagens auf der Ladefläche. Kurz darauf verschwindet die Staubfahne des Lasters am Horizont.
Bogdan und Vali möchten nicht mehr weiter, wollen ein paar Kilometer außerhab des Ortes zelten. Ich fühle mich unter Zeitdruck und beschließe dem LKW in den Abend zu folgen. Ich hole den Laster ein, winke Mischa auf der Ladefläche zu. Wenige Minuten später schmeißt es mich dann selbst hin, glücklicherweise bei moderater Geschwindigkeit. Einer meiner Koffer scheint sich gelöst zu haben. Ein paar blaue Flecken wird es wohl geben, der Koffer ist verbogen und mein Handy ist in der Hosentasche zersplittert. Ich berappele mich, befestige den Koffer mit einem Spanngurt und versuche nun noch vorsichtiger durch die Dämmerung zu fahren. Einige Zeit später entdecke ich zwei Motoradscheinwerfer auf der Ebene hinter mir. Es sind Vali und Bogdan, die sich doch noch auf den Weg gemacht haben. Nachdem nach 100 Kilometern die Lichter der paar Häuser von Nomrog durch die Nacht blitzen, überreden mich die beiden, es dann doch für den Abend gut sein zu lassen. Wir kehren bei einer Familie ein, die eine kleine Bäckerei betreibt und dürfen für ein paar Tigru auf dem obligatorischen Podest in der Gaststube schlafen. Der 11-jährige Sohn findet uns super und zeigt mir alle möglichen Dinge auf seinem Smartphone, während ich zum Duft von frisch gebackenem Brot diese Zeilen schreibe.

Ich beschließe, den Sonntag nicht in Taschanta zu verbringen und fahre zurück Richtung Aktasch. Kurz davor biege ich in einem der unzähligen Pfade auf die Bergwiesen ab und genieße es, die Feld- und Waldwege völlig legal mit dem Motorrad entlang zu cruisen. Mittags treffe ich irgendwo an einem Bachlauf eine Familie, die mit dem klassischen Vaz-Jeep ein Sonntagspicknick macht. Ich will nicht stören und fahre in der anderen Richtung weiter. Gegen Abend mache ich mich wieder auf der 50 Kilometer langen, schnurgeraden Straße auf den Weg gen Taschanta. Am Montag Morgen wollen Bogdan, Vali und ich die Mongolische Grenze anggehen.
Im Hotel sind inzwischen vier Teams der sogenannten Mongol-Rallye angekommen. Zur jährlichen Rallye treffen sich rund 300 internationale Teams in London in alten Autos die weniger als 1200 Kubikzentimeter haben müssen, um anschließend damit in die Mongolei zu fahren. Dabei versuchen sie Sponsorengelder zu sammeln, die anschließend gespendet werden. Einige der Fahrzeuge sind mir auf dem Weg Richtung Grenze bereits aufgefallen. Die hauptsächlich irischen Teilnehmer der Teams in unserem Hotel scheinen das Ganze eher als Party-Tour zu sehen und und feieren ausgelassen in unserem Hotel. Während sie am Morgen in der langen Schlange vor der Grenze ihren Rausch im Auto ausschlafen und wir uns mit den Motorrädern daran vorbei schlängeln, fällt uns ein einzelner Motorrad-Fahrer auf, der ebenfalls brav in der Schlange wartet. Wir halten an und ich rufe durchs brummen unserer Motoren: „Do you speak English?!“. „Not so good“, antwortet er uns mit russischem Akzent. Es ist der 28-jährige Mischa aus Moskau, der mit seiner KTM ebenfalls die Mongolei erkunden und sich auf die historischen Spuren von Dschinghis Khan begeben will. „Come with us“, rufe ich, „you dont need to wait in the queue, if you are a biker!“ Kurz darauf, beweißt uns Mischa sogleich, wie hilfreich es ist, einen russischen Muttersprachler dabei zu haben. Als die Grenzsoldatin von uns verlangt, das ganze Gepäck ins Grenzhäuschen zu schleppen, bezirzt er die uniformierte Dame mit streng geflochtenem Pferdeschwanz, dass das doch nun wirklich nicht notwendig sei. Einige Kontrollen, Stempel und Kilometer später, gelangen wir schließlich an die mongolische Einreise. Hier herrscht völliges Chaos. Wir werden von Schalter zu Schalter geschickt, bekommen Zettelchen mit Nummern und Stempeln. Aus dem Wirrwarr heraus ertönt eine tiefe Stimme: „Zumindest einer von Euch kommt aus Stuttgart, oder?“ Es ist Temur, kasachischer Deutscher mit Wurzeln in der Mongolei. Er erklärt mir, dass er jedes Jahr zum Opferfest in die Mongolei fährt, er ist sogar mit dem Großmufti aus Ölgii zusammen im Auto unterwegs. „Der ganze Westen der Mongolei ist größtenteils von Kasachen besiedelt. Und die sind Muslime.“ erklärt er mir.
Schließlich sind zumindest Mischa und ich abgefertigt. Beim Visum von Vali und Bogdan gibt es jedoch Probleme. Mischa vermittelt und übersetzt fleißig. Da ich eh nicht helfen kann, beschließe ich bei den Mopeds zu warten. Ganze fünf Stunden dauert es, bis eine Lösung für die beiden gefunden ist. Ich habe in der Zwischenzeit gevespert, geschlafen und mich mit den beiden Hausziegen der Grenzposten angefreundet.
Als wir endlich mongolische Boden unter den Reifen haben, ist es schon später Nachmittag. Wir erreichen in der Dämmerung Ölgii und checken in einem einfachen Jurtencamp ein. Immerhin hat es das letzte Wlan für eine Weile.
Da wir nun zu viert sind, beschließen wir die mittlere der drei Routen durch die Mongolei zu nehmen. Hier gibt es wohl einiges an Offroad-Strecken, aber auch genügend ausgebaute Schotter- und Teerstraßen um zügig voran zu kommen. Zumindest die knapp 400 Kilometer nach Naranbulagh scheinen uns realistisch für eine Tagesetappe. Am Morgen rollen wir voller Elan und Tatendrang, vollgetankt und mit Essen ausgestattet, aus der Stadt. Die ersten Kilometer auf der ausgebauten Schotterstrecke fliegen wir nur so dahin, doch spätestens hinter Hovd beginnt die Strecke schmaler und sandiger zu werden. Fahrtechnisch haben wir uns aufgeteilt. Mischa und ich bilden die Spitze, Bogdan und Vali folgen meist einige Minuten hinter uns. Zwischen Hovd und Olghii verfransen wir uns schließlich völlig. Die endlose Weite des Landes, mit der Steppe, den Kamelen und der malerischen Landschaft sind zwar traumhaft anzusehen, machen es aber auch trotz GPS wahnsinnig schwierig, sich zu orientieren. Wir haben einen Abzweig der Fahrspur verpasst, müssen einige Kilometer auf der sandigen Strecke zurück. Es ist inzwischen Nachmittag und bei allen lässt die Konzentration nach. Als ich vorne auf den Rest der Truppe warte, dauert es etwas länger. Vali hat einen leichten Sturz auf der weichen Sandpiste. Zum Glück ohne weitere Schäden.
Die ganze Zeit bewegen wir uns zwischen 1200 und 2000 Höhenmetern. Zwischendurch kühlt es schon mal auf 10 Grad herunter, dann steigt das Thermometer in der Sonne wieder auf bis zu 25 Grad. Am frühen Abend erreichen wir völlig ausgezehrt und hungrig die paar Häuser des Ortes Olghii (nicht zu verwechseln mit Ölgii). Es gibt eine Art Restaurant, die Dame hinterm Tresen deutet auf ein Hinterzimmer mit einer größeren Pritsche, auf der wir schlafen könnten. Für umgerechnet 4 Dollar pro Person. Dusche gibt es keine, wir können uns aber im Hof mit Wasser aus einem Faß waschen. Die Toilette ist das in der Mongolei übliche „Loch im Boden“. Wir sind dennoch froh, etwas warmes zu Essen und ein Dach überm Kopf für die Nacht zu haben.

Es läuft zäh. Ich bin seit 6 Uhr morgens unterwegs, nachdem ich nur vier Stunden geschlafen habe. Vorgenommen hatte ich mir 850 Kilometer für den ersten Tag, aber jetzt ist es 14 Uhr, und ich bin gerade mal in Biisk. Hier will ich mich noch schnell mit Dollars für die Mongolei versorgen, dann geht es weiter. 70 Kilometer vor Aktash, meinem ursprünglichen Ziel gebe ich dann auf. Es wird Dunkel, und ich halte an einer Gostiniza. Zimmer hat es keine mehr, aber ich bekomme eine simple Holzhütte mit Bett am Fluss für umgerechnet 7 €. Auf der Veranda des Restaurants sitzen Vicenc und Josip aus Barcelona. Die beiden sind Rentner und auf Classic Bikes unterwegs, einer BMW R65 und R100. Vicenc ist der erste Besitzer seiner R100 und hat über 200 000 Kilometer abgespult. Sie sind coole Typen, eher entspannt und nicht offroad unterwegs. Es ist klar, dass wir am nächsten Morgen getrennt fahren. Ich will eh noch einen Abstecher zum Pass Katu-Jarik nördlich von Aktash machen.
Die Straße von Aktash in Richtung Ulagan ist länger als gedacht, aber entschädigt durch eine unglaubliche Landschaft. So kennt man Sibirien aus dem Fernsehen: endlose Nadelwälder, zwischendurch Flüsschen, Seen und Berge. Irgendwo da draußen sind bestimmt auch noch ein paar Bären vor den Gewehren der Jäger verschont geblieben. Das letzte Stück in Richtung Passstraße sind 20 Kilometer offroad. Ich genieße es, endlich mal wieder legal über Waldwege düsen zu dürfen. Der Pass besticht mit einem Wahnsinnsausblick. Auf dem Weg nach unten treffe ich noch Brigitte und Ivo. (http://www.bikepackground.com/) Die beiden sind seit Jahren auf Ihren Fahrrädern unterwegs, kennen die Mongolei wohl wie ihre Westentasche und geben mir wertvolle Tips zur Route.
Als ich mir unten ein paar mitgebrachte Waffeln einverleibe, lädt mich ein stämmiger Outdoor-Russe zu seiner Familie an den Grill ein. „Die Waffeln da, das ist doch nichts!“, ruft er. Mir tut es in der Seele weh, aber ich muss seine Einladung ablehnen. Ich will die Mongolei noch erreichen, denn die Grenze macht um 18 Uhr dicht.
Nachdem ich mich ein paar weitere Stunden durch die schönen Berge des Altei geschlängelt habe, wird mir klar, dass das mit der Grenze knapp wird. Zehn Minuten vor 18 Uhr rolle ich in Taschanta, dem letzten Ort vor der Grenze ein. Ich versuche es gar nicht mehr, sondern checke im neu gebauten „Hotel“ am Eingang der Stadt ein. Sogleich bereue ich, es nicht an der Grenze probiert zu haben. Die Dame im Hotel erklärt mit nämlich, dass die Grenze sonntags zu hat, heute ist Samstag. In Taschanta gibt es 20 Häuser, einen Checkpoint und ein Geschäft. Ein Traum.

Verschlafen blinzele ich durch meine Augenlieder in den abgedunkelten Raum. Am Tisch sitzen ein paar Männer, genauer Andrej, Andrej und Dima. Dahinter steht Ksenia vor der kleinen Einbauküche. Am Abend bin ich in Novosibirsk angekommen, und Kostia und Luda hatten es sich nicht nehmen lassen, mich vom Flughafen abzuholen. Gestern ging es gleich morgens die bestellten Reifen abholen, anschließend zur Garage von Ludas Mutter, in der das Motorrad die letzten Monate parkte. Ich hatte nicht mal die Batterie ausgebaut. Ein Druck auf den Anlasser: sofort ist der Boxer zum Leben erweckt. Nachdem es erst noch frische Apfelküchlein in Ludas Elternhaus gibt, machen wir uns im Konvoi auf zu Andrej, dem ehemaligen Atomphysiker, der nun ein Schrauberleben in seiner ausgebauten Garage führt. Er ist gleichzeitig Mechaniker vom Motorradclub „99 Percent“ und macht sich mit seinem Mechaniker Dima sogleich an die Arbeit. Es sollen die neuen Reifen aufgezogen, das Getriebeöl gewechselt und ein paar andere Kleinigkeiten repariert werden. Unterdessen sitze ich mit Ksenia, Andrejs Frau, im oberen Stockwerk der Garage, trinke Tee und unterhalte mich mit Ihr per Google Translate. Andrej ist mit den Reifen zu einer anderen Werkstatt gefahren, da er dafür keine Maschine hat, da kommt der ernüchternde Anruf. „Der Hinterreifen hat die falsche Größe“, gibt mir Ksenia zu verstehen. Wie ich mich vertun konnte, ist mir unerklärlich, aber nun gilt es, das Problem zu lösen. Doch woher um alles in der Welt in wenigen Stunden einen gescheiten Offroad-Reifen meiner Größe auftreiben? Inzwischen sind einige andere Biker auf ein Gespräch vorbei gekommen. Einer davon, auch ein Andrej, erinnert sich, dass ein Freund ebenfalls eine BMW GS meines Baujahrs fährt. Ein paar Anrufe und dann ist alles geklärt. Am nächsten Morgen können wir einen neuen Conti TKC80 vom Kumpel abholen. „Siehst Du, wir Russen helfen immer unseren Freunden!“, sagt Andrej und zwinkert mir zu, nachdem ich vorhin erklärt hatte, dass die Reputation Russlands in Deutschland eher durchwachsen ist.
Für mich bedeutet das, dass ich eine Nacht länger als geplant in Novosibirsk verbringen werde. Den zusätzlichen Abend nutzen Luda, Kostia und ich, uns meinem Gastgeschenk, einer Flasche Whisky zuzuwenden. Am nächsten Tag geht es wieder raus zu Andrej in die Garage. Während sich Andrej und Dima ans Schrauben machen, übermannt mich auf der Couch der Schlaf, bis ich zur obigen Szene aufwache. Andrej sagt zu mir: „Your Bike ready!“
Am nächsten Morgen noch schnell ein Abschiedsfoto vor der Lenin-Statue, dann rollt die Fuhre inklusive Ersatzreifen aus der Stadt.
Fast zwei Tage lang habe ich nun in der Garage von Andrej verbracht. Andere Biker haben mir Tipps gegeben, Ksenia hat uns alle mit Essen versorgt und ich habe mich selten so willkommen gefühlt. Immerhin kann ich ein bisschen davon zurück geben. Kostia und Luda gehen im September mit den Mopeds auf Europatour. Ein Stop in Stuttgart ist schon vereinbart. Danke „99 Percent“, Danke Novosibirsk!

Ich verbringe noch eine Nacht in Kamen am Ob, dann hat mich die Zivilisation in Novosibirsk wieder. Die sibirische Metropole besticht durch das größte Opernhaus Russlands sowie die Lage am Fluss Ob mit vielen kleinen Stränden, Buchten und Yachthafen. Ich habe in Kirgisistan von Stas den Kontakt zu Konstantin, dem Präsidenten des Motorrad-Clubs „99 Percent“ erhalten. Das eine Prozent außerhalb des Namens steht für die Outlaws, die im Club nicht willkommen sind. Konstantin und seine Frau Ludmilla kümmern sich aufopfernd um mich und mein Motorrad. Kostia nimmt sich den ganzen folgenden Tag Zeit, um mit mir zu einem befreundeten Mechaniker zu fahren, der mir das Kardan-Öl wechselt. Ich hatte gelesen, dass man das bei meinem Model der GS1200 einmal im Motorrad-Leben wechseln sollte. Der Mechaniker, Andrej war im vorigen Leben Kernphysiker. „Einen besseren Mechaniker gibt es in ganz Russland nicht!“, sagt Kostia mit Augenzwinkern. Anschließend noch die obligatorische Wäsche, dann wird meine „Dicke“ in der Garage von Kostias Schwiegereltern abgestellt. Ich mache mir noch kurz Notizen über die Teile, die ich aus Deutschland besorgen muss, dann verschwindet das Motorrad hinter dem braunen Tor, hinter dem ich sie Ende August wieder hervor holen will. Theoretisch kann das Motorrad mit den momentanen Papieren noch 5 Monate im Land verbleiben, dann muss ich zumindest kurz damit ausreisen, um die „Aufenthaltsgenehmigung“ wieder zu verlängern. Im September kommen Kostia und Ludmilla mit ihren zwei Yamaha FJR auf große Europa-Tour. Meine Chance mich zu revanchieren. Wehmütig steige ich ins Flugzeug. Die vier Wochen vergingen wie im Flug.

Ich fahre den ganzen Tage, habe wieder eine ausgezeichnete Straße unter mir und schaffe es sogar bis über die russiche Grenze bei Kulunda. Als ich in der brütenden Hitze am russichen Posten warte, steht neben mir ein Bus, davor eine Gruppe usbekischer Gastarbeiter. Da löst sicher einer aus der Gruppe, kommt auf mich zu und drückt mir eine Flasche Mineralwasser in die Hand:“Nastarovje, moi drug!“, ich bin gerührt.
Der Lebensstandard hat seit Tadschikistan graduell gen Norden über Kirgistan und Kasachstan zu genommen. Hier in Russland fällt mir das als erstes durch ein unwichtiges Detail auf: Nach der Grenze gibt es Fahrbahnmarkierungen und einen gemähten Grünstreifen. Verrückt! Ich erreiche bei Anbruch der Dunkelheit den „Deutschen Nationalrajon (Nationalkreis) Halbstadt“ und checke in der gleichnamigen Gostiniza Halbstadt ein. Als ich am nächsten Tag versuche, am Automaten Geld abzuheben und umzutauschen, bin ich ernüchtert, denn weder im Hotel noch in der Bank spricht irgendjemand Deutsch. Ich habe das Gefühl, die Damen im Hotel halten mich für einen Russlanddeutschen, der sein Russich verlernt hat, sie sind nicht gerade freundlich. Als ich etwas bedröppelt vor der Bank stehe und überlege, wie ich meine Simkarte am Geldautomaten aufgeladen bekomme, nimmt sich Igor meiner an. Über Google-Translate erklärt er mir, dass er zwei Jahre in Deutschland gelebt, aber alles Deutsch vergessen habe. Damals hätten ihm die Deutschen auch geholfen, er wisse wie es sei im Ausland. Er lädt mir das Handy auf und steigt fröhlich in sein Auto.
„Du bist aber weit weg von daheim unterwegs!“, ertönt es plötzlich hinter mir. Vor mir steht Andrej, er spricht fließend Deutsch mit einem leicht norddeutsch klingenden Akzent. „Ich habe zwanzig Jahre lang in der Nähe von Paderborn gelebt,“ erklärt er. Ich frage ihn, ob er Zeit auf einen Kaffee hat, er lädt mich darauf hin zu sich nach Hause ein. Andrej wohnt mit seiner Familie im Ort Protasowo, 40 Kilometer nördlich von Halbstadt. Hier lag ehemals ein kleiner Ort namens Reinfeld, doch den gibt es schon lang nicht mehr. Mit seinem Bruder Johann hat sich Andrej hier ein beachtliches zweistöckiges Doppelhaus gebaut. 1992 kam die gesamte Familie – Eltern, Andrej und die fünf Geschwister – im Zuge des Russlanddeutschen Exodus nach Deutschland. Man suchte sich Arbeit und Wohnungen und begann ein neues Leben in der neuen alten Heimat. Doch in Johann arbeitete das Heimweh nach der sibirischen Weite. Als ihm der Arbeitgeber aufgrund von schlechter Konjunktur das Gehalt kürzt, reicht es ihm. Er packt seine Koffer und fährt halsüberkopf nach Halbstadt zurück. Hier steht inzwischen alles still, die Dörfer sind zu Durchgangsstationen für Russlanddeutsche auf dem Weg von Kasachstan nach Deutschland mutiert, alles ist herunter gekommen. Er fasst den Plan zur dauerhaften Rückkehr, Andrej schließt sich ihm an. Acht Jahre lang bauen die beiden am Haus, arbeiten parallel in Deutschland, um das Geld dafür zu verdienen. 2007 zieht erst Johann, anschließend 2012 auch Andrej mit seiner Frau und den drei Kindern zurück. Ob sie es je bereut hätten, frage ich. „Nicht eine Minute!“ antworten beide. Andrej blickt über das angrenzende Feld:“Diese Weite, dieser Raum, das hat mir gefehlt!“, fügt er hinzu. In einer Wohnung eingepfercht im dicht besiedelten Deutschland, das habe ihn eingeengt. Auch wenn ihn in Deutschland alle Verwandten für bekloppt halten. Marina, seine Frau, hat inzwischen Borsch und Kaffee für uns gekocht. Als ich nach Milch frage, läuft der zwölfjährige Sohn, Adrian, kurz rüber und holt frische Milch von Johanns Kuh. Nach dem Essen verabschiedet sich Andrej, er arbeitet bei einer Bäckerei mit 20 Angestellten im Ort als Betriebsleiter. Sein Sohn führt mich durchs Dorf. Zirka 50 Rückkehrer-Familien gibt es inzwischen im Kreis. In Protasowo gibt es zudem noch strenggläubige deutsche Baptisten-Familien, die schon immer hier geblieben sind. „So langsam tut sich wieder etwas im Dorf“ erklärt mir Johann. „Wir waren die ersten mit Doppelglasfenstern, inzwischen haben fast alle welche. Der Lebenstandard steigt wieder.“ Marina ist im örtlichen Deutschen Kulturverein aktiv, dort werden Ferienlager für die deutschen Kinder organisiert und vor allem viel Deutsch gesprochen und gesungen, damit die Sprache nicht verlernt wird. Vor allem sorgen sie sich ums Plattdeutsche, das die Älteren noch sprechen. 200 Jahre lang hat der Dialekt in dem Dorf überlebt und wurde die letzten zwanzig Jahre wie weggewischt.
Als ich mit Adrian vom Spaziergang zurück komme, liegt Johann unter seinem Ural-Motorrad-Gespann, das er wieder herrichten will. „Komm doch im August wieder vorbei,“ zwinkert er mir zu, „ich bin zu 100 Prozent hier, wie auch den Rest meines Lebens!“ Ich bedanke mich für die spontane und herzliche Gastfreundschaft. Einziger Wehmutstropfen: „Du darfst alles fotografieren und schreiben,“ lacht Johann, „nur von uns möchte keiner auf Fotos.“ Ich fahre noch im Nachbarort Podsosnowo vorbei. Hier sind wohl 70 Prozent der Deutschen vor Ort geblieben und es wurde mehr der bayrische Dialekt gesprochen, wie mir Andrej erklärte. Vor Ort zeugen Deutsch-Russische Embleme und Inschriften von der gemischten Bevölkerung. Danach schlage ich den Weg gen Norden ein.

„Für eine harte und entbehrliche Motorrad-Tour, geht’s uns hier ziemlich gut“, sage ich zu Eric, als wir abends am unteren Ende des befahrbaren Teils des Charyn Canyon auf der Terasse unserer Bungalows sitzen. Im Hintergrund rauscht der Fluss durch die Schlucht und wir verspeisen Erics Asia-Nudeln vom Campingkocher. Französische Haute Cuisine eben!
Der Canyon hält, was er verspricht: Das Naturschauspiel ist atemberaubend. Inzwischen haben wir uns als Team so aneinander gewöhnt, dass Eric vorschlägt, seinen Alamty-Besuch sausen zu lassen und gemeinsam mit mir Kasachstan zu queren. Ich schlage dankbar ein, wohlwissend, dass die langen, geraden Straßen Kasachstans eine mentale Herausforderung darstellen. Am nächsten Morgen geben wir uns der endlosen Steppe bei 35 Grad hin, und es wird Zeit den Mp3-Player einzuschalten.
Inzwischen bin ich auf dieser Tour etliche Male von der Polizei angehalten worden. Bezahlt habe ich nie, inzwischen kann ich mit den Gesetzeshütern umgehen. Die beiden Male in Kasachstan sind jedoch zu erheiternd, um sie hier auszusparen. Nachdem wir Almaty nördlicherseits passiert haben, kommen wir in einen stationären Checkpoint der Polizei. Der Beamte kommt uns mit künstlich-autoritärem Gehabe: „Documents motocycle!, where you from?“ Als ich ihm erkläre, dass Eric aus Frankreich ist und ich aus Deutschland komme, kräuseln sich seine Augenbrauen. Er hält mir einen Trichter aus Papier unter die Nase und bedeutet mir hineinzupusten. „I know you drink beer“, behauptet er nun, “ I know you drink beer three days ago!“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich lauthals los lachen soll. Dann reiße ich mich aber zusammen und erkläre ihm mehrmals, dass ich nie Alkohol trinke. Schließlich lässt er uns fahren und wir prusten los, als wir wieder auf den Mopeds sitzen.
Die Straße ist gut und wir nutzen den ausnahmsweise makellosen Asphalt. Ein paar Stunden später düsen wir mit 125 statt geforderten 110 prompt in einer Radarfalle. Ich raune Eric noch zu: „You speak!“, als die Polizisten auf uns zu kommen. Normalerweise bin ich sprachlich etwas fitter und übernehme die Konversation, doch hier scheint mir das von Nachteil. Eric lässt sich nicht zweimal bitten, und macht auf Französisch dermaßen den Clown, dass wir fünfzehn Minuten später gemeinsame Fotos mit den Polizisten machen und lachend von dannen ziehen. Danach wieder stundenlanges Ertragen von Hitze und Eintönigkeit. Wir übernachten in einem Truck-Stop im Nirgendwo. Während wir unter freiem Himmel Schaschlik und Borsch vertilgen, dröhnt aus der Glotze über uns klassisches russisches Trash-TV.
Am nächsten Tag geht es weiter mit dem Gejuckele und Geruckele auf endlosen schlechten Straßen voller Schlaglöcher. Irgendwo auf der Strecke verabschiedet sich mein Rücklicht. Ich habe beschlossen, wie geplant einen Schlenker über Pawlodar nach Russland zu machen, um in der vermeintlich deutschen Stadt Halbstadt einen Stop einzulegen und mich auf die Spuren der Russlanddeutschen zu begeben. Eric hingegen möchte auf schnellstem Weg in die Mongolei. Daher endet am Abend unser gemeinsames Stück Weg. Am Morgen verabschieden wir uns herzlich. Dann biegt Eric nach links und ich nach rechts ab.

Am nächsten Morgen dann die böse Überraschung. 200 Meter den Pfad hinunter habe ich meinen ersten Platten. Bei den Gewässerdurchfahrten des Vortages scheint ein Stein die Seitenwand des Vorderreifens beschädigt zu haben. Für die Lauffläche hätte ich Flickzeug gehabt. Wir versuchen das Leck behelfsmäßig mit Gummimasse abzudichten, doch das bringt wenig. Immerhin, einige Zeit scheint der Reifen die Luft zu halten. So quälen wir uns endlose 80 Kilometer, mit ständigem Aufpumpen den Schotterweg entlang, in die nächste Ortschaft. Dort klebt mir der 22jährige Azkhar in einer Reifenbude am Straßenrad, ein ordentliches Stück Gummi von Innen in den Reifen. Wenigstens bis nach Korokul, am Ostrand des Issik-Kul Sees, schaffen wir es an dem Tag noch. Wir kommen in einem Hostel unter, in dem sich jede Menge Youngster aus Polen, Estland, Tschechien und Finnland zum Wandern tummeln. Scheinbar ist Kirgisistan der neueste Trend unter den Studies dieser Länder.
Tags darauf passieren wir die östliche Grenze zurück nach Kasachstan. Auf der anschließenden Buckelpiste fahre ich voraus und drehe den Hahn auf. Eric bleibt etwas zurück um keinen Staub schlucken zu müssen. Irgendwann bemerke ich, dass er aus dem Rückspiegel verschwunden ist. „Sicher hat er angehalten um Fotos zu machen,“ denke ich mir, doch Eric taucht nicht auf. Schließlich drehe ich doch um und beginne mir Sorgen zu machen. Als sein Motorrad am staubigen Horizont auftaucht, steht er zum Glück schon wieder. Ein Stein hat sein Vorderrad ebenfalls aufgeschlitzt, durch den plötzlichen Druckverlust hat es ihn bös gewickelt. Trotzdem hat er noch nicht mal blaue Flecken. Am Motorrad ist kaum etwas zu Schaden gekommen und nun bewähren sich die beiden Ersatzreifen, die er seit Frankreich hier herunter geschleppt hat. Eine Stunde lang knäulen wir den neuen Reifen auf die Felge und fahren schließlich weiter bis zum Charyn Canyon im südöstlichen Kasachstan.

Ich verbringe drei Tage in Osh und nutze die Zeit, um Motorrad, Kleidung und mich selbst wieder auf Vordermann zu bringen. Die lauen Abende verbringe ich mit Nastia und Stas bei Bier und traditionellem usbekischen Plov im Innenhof der Pension. Die Beiden sind inzwischen mehr Freunde als Gastleute für mich geworden. Während sich beispielsweise in Kasachstan, Russen, Kasachen und andere Völker in friedlicher Koexistenz üben, sieht das in Kirgistan schon anders aus. Auch hier hat der Populismus Einzug gehalten. 2010 kam es zu schweren Unruhen zwischen Kirgisen und Usbeken, die hunderte Menschenleben gekostet haben. Viele Usbeken sind geschäftstüchtig und fleißig. Das gefällt nicht allen Kirgisen im Land, die in den Usbeken eine Konkurrenz am Arbeitsmarkt sehen. Der übrig gebliebene russische Teil der Bevölkerung versucht zwischen den beiden Volksgruppen sein Überleben zu sichern. Auch Nastia und Stas überlegen, ihr Gästehaus aufzugeben und nach Russland zu gehen, obwohl beide hier geboren wurden. Sie sorgen sich um die Zukunft und Ausbildung ihrer Kinder.
Ich muss leider wieder aufbrechen und entscheide mich für eine andere Route gen Norden als die über den Toktogul-See auf dem Hinweg. Johannes, ein Biker den ich auf dem Rückweg vom Pamir in Murgab getroffen habe, hatte mir zwar berichtet, dass die Offroad-Strecke über den Son-Kul See aufgrund von herab gegangenen Erdrutschen unpassierbar sei, mich reizt sie aber trotzdem und ich will mein Glück versuchen. Ich breche früh auf und während ich mich in Dschalalabad orientiere, hält Eric aus Frankreich neben mir an. Er hat das gleiche Motorrad wie ich, allerdings komplett auf seine Bedürfnisse umgebaut, und will auch zum Son-Kul See. Wir beschließen, zusammen zu fahren. Er stellt sich als exzellenter Fahrer heraus, ist früher Enduro-Rennen gefahren und hat sich die zweimonatige Reise in die Mongolei zu seinem Fünfzigsten geschenkt. In der Nähe von Montpellier arbeitet er momentan als Krankenpfleger, im ersten Leben war er Mechaniker. Endlich kann ich mich auch in schwierigeres Terrain vorwagen. Während ich die beiden atemberaubenden Pässe in Richtung Son-Kul in einer Mischung aus Adrenalin, Vergnügen und Anspannung bewältige, scheinen sie für Eric eher ein Spaziergang zu sein. Stets zwei Spitzkehren voraus, fehlt nur, dass er die Strecke noch auf dem Hinterrad fährt. Am Abend kehren wir in einem kleinen Homestay in Kasarman ein, bis zum See reicht es uns leider nicht mehr.
Dafür erreichen wir Son-Kul am nächsten Tag bereits gegen Mittag. Die kirgisische Landschaft unterscheidet sich deutlich vom Pamir. Hier in Kirgisistan regnet es deutlich mehr und es geht meist nur auf ca. 3000 – 4000 Meter hoch. Die Szenarien erinnern eher an die Alpen, mit saftigen grünen Wiesen. Das Ufer des Son-Kul See ist daher gespickt mit vielen kleinen Jurten-Camps der Bauern, die hier ihr Vieh weiden und nebenher ein Homestay betreiben. Wir beschließen, den Tag zu nutzen und den See offroad zu umrunden. Dabei geht es durch recht tiefe Gewässer, bis Erics Maschine bei einer Querung schließlich Wasser zieht. Es bleibt glücklicherweise beim kurzen Schock, wenige später springt das Motorrad weiß qualmend wieder an. Gegen Ende des Sees, als schon fast keine Jurten mehr zu sehen sind, tauchen doch noch vier kleine weiße Zelte im Tal rechts von uns auf. Kurz darauf stapfen uns Marina und Stephane durchs Gras entgegen. Die beiden Endzwanziger-Franzosen verbringen in Kirgisistan ihre Flitterwochen und haben am Vorabend eine kirgisische Hochzeitszeremonie im Camp nacherlebt. Wir beschließen, ebenfalls bei der sympathischen Hirtenfamilie „einzuchecken“.

Chorug kommt einem im Vergleich zu den letzten Orten gar wie eine Metropole vor. Es hat zirka 30000 Einwohner und stellt das kulturelle und administrative Zentrum von Berg-Badakhshan dar. Hier gibt es die einzige Universität der Gegend. Seit Kirgisistan sehe ich zum ersten mal eine Ampel. Ich übernachte in einem einfachen Hotel in der Innenstadt. Beim Frühstück komme ich mit Zubair und Shafic ins Gespräch. Die beiden sind Amerikaner und Schiitische Ismaeliten. Sie arbeiten hier in ihren Ferien an einem Projekt für die Agha Kahn Stiftung. Überhaupt gehören fast alle Bewohner Badhakshans dieser Religion an. Ihr religiöses Oberhaupt ist der Agha Kahn. Das erklärt auch warum die Frauen vergleichsweise figurbetont gekleidet sind und selten das Gesicht verhüllen. Das Kopftuch ist eher Tracht oder Schutz gegen die Sonne, als religiös bedingt. In Chorug werfen einem die vorbeilaufenden Frauen auch schon mal einen flirtenden Blick zu.
Die Aga Kahn Stiftung hat in Chorug ihre Spuren hinterlassen. Im Zentrum gibt es einen schön angelegten großen Park, an dessen Rand eine schicke Touristen-Information gebaut wurde ( http://www.visitpamirs.com/welcome-to-pamirs ). Beides finanziert durch Agha Kahn. Dort empfängt mich die bildhübsche 23jährige Safina. Sie spricht fließend Englisch und auch ein bisschen Deutsch. An der Chorug State University hat sie ihren Bachelor gemacht, seit dem arbeitet sie für die Tourismus Agentur. Sogar im Stuttgarter Globetrotter war sie schon mal, als die Region eine Marketing – Tour durch Deutschland veranstaltet hat. Und nicht ohne Erfolg. Während es 2015 noch 1500 Besucher im Infopunkt gab, stieg die Zahl 2016 auf 2500 Besucher an. Die Meisten davon Deutsche. „Das Jahr 2017 war bisher leider nicht so gut“ erklärt Safina mit Bedauern. „Die Nachricht, dass die Taliban auf der afghanischen Seite bis in die Nähe des Wakhan – Korridor vorgerückt sind, hat viele abgeschreckt. Dabei gab es auf der tadschikischen Seite nie Probleme.“ erklärt sie weiter. Als nächstes möchte Safina ihren Master machen, dann ihre eigene Tourismus-Agentur gründen. Einen Grundkurs als Bergführerin hat sie schon gemacht.
Ich will weiter und muss mich entscheiden. Entweder ich fahre zurück in Richtung Murgab und dann die Strecke die ich gekommen bin bis Osh. Oder ich nehme drei Tage Umweg über Dushanbe in Kauf und schaue mir noch den Rest Tadschikistans an.
Ich entscheide mich für erstere Variante, peile aber an nicht wieder in Murgab zu übernachten, sondern noch einen Abstecher an den Bulungul-See zu machen. Dort gibt es auch ein kleines Homestay welches mir Safina empfiehlt.
Ich unterhalte mich noch bei einem Eis mit Engländer George, der mit dem Fahrrad unterwegs ist, dann mache ich mich auf den Weg. Auf den ersten Kilometern zeigt mein Motorrad erste Ermüdungserscheinungen der letzten Tage. Erst verabschiedet sich mit einem Schlag mein in Almaty frisch montierter Schmutzfänger am Hinterrad, dann fällt mein Fußbremshebel auseinander. Das Geruckel der Pisten und Schlaglöcher ist auf Dauer wohl zu viel gewesen. Ich kann trotzdem weiter fahren und erreiche kurz vor Sonnenuntergang Bulunkul. Das Homestay wird von einer jungen sympathischen Familie betrieben, ich bin der einzige Gast im Ort. Die Mutter kocht mir frittierten Fisch aus dem nächst gelegenen See. Das beste Essen das ich seit Tagen bekommen habe. Als der Sohn einen Heulkrampf bekommt, den Grund kenne ich nicht, zeige ich ihm mein Motorrad und er darf mal Probesitzen und am Gas drehen. Am nächsten Morgen finde ich auf der Sitzbank zwei farbig angemalte Schafsknochen. Sein Spielzeug, welches der Kleine mir zum Dank schenken möchte. Der Vater lacht und meint ich solle sie als Andenken mit nach Deutschland nehmen.
Ich packe zusammen und möchte noch den See erkunden. Nach einer Weile komme ich wieder an einer heißen Quelle vorbei, an der die Frauen beim Waschen sind. Sie laden mich auf Chai ein, wir versuchen uns zu verständigen und machen Fotos. Schließlich packe ich meinen Polaroid-Drucker aus und verschenke ein paar Bilder, die Frauen sind entzückt. Anschließend fahre ich den ganzen Tag in Richtung Murgab und der Grenze von der ich gekommen bin. Der Ak-Baital Pass präsentiert sich diesmal bei schönstem Sonnenschein. Bis ganz zur Grenze wird es mir dann doch zu knapp und so verbringe ich meine letzte Nacht in Tadschikistan am Karakul-See.
Am nächsten Morgen möchte ich mir auf der kirgisischen Seite noch das Basecamp am Fuße des mit 7.134 Meter höchsten Bergs des Pamir, dem Pik Lenin ansehen. Es wird auch die CBT-Jurte genannt und ist ein Homestay. Um es zu erreichen, muss man etwa 40 Kilometer offroad von der Haupstraße zurück in Richtung Pamir fahren. Ich verfranze mich völlig in dem Gewirr von Schmelzflüsschen und erreiche gut zwei Stunden später als geplant das Camp. Während der Fahrt stelle ich mir das Lager vor wie aus den Dokusendungen, gefüllt mit Typen wie Reinhold Messner. Als ich schließlich ankomme, sind die Jurten völlig leer gefegt. Es empfängt mich eine einzige ältere Kirgisin. Sie kocht mir freundlicherweise für ein paar Dollar Nudeln und Chai. Ich schwinge mich wieder aufs Motorrad und spule die letzten 250 Kilometer in Richtung Osh ab. Dort erreiche ich gegen Abend wieder die Pension von Nastia und Stas, wo ich mich die nächsten Tage erholen möchte.